Mütter – KZ

Die Selbstgerechtigkeit der Menschen macht aus Opfern Täter

Eine Freundin von mir wollte, nach einem schlimmen Sorgerechtstreit um ihre Tochter (dessen Eskalation sie zum Teil mitverschuldet hatte), ihre Erfahrungen in einem Buch verarbeiten. Ich Wunschtitel für das Buch war: „Mütter-KZ“.

Ich war damals fassungslos – nicht nur weil meine eigenen Eltern vom verbrannten Menschen-Fleischgeruch, Gestapohaft und tagelangen Menschentransporten in Viehwagons (mit einem Eimer Scheiße für 100 Leute) noch selbst betroffen sind. Mich hat geschockt, wie man sich in seiner Selbstgerechtigkeit – ohne jede objektive Selbstkritik – derart als angebliches Opfer selbst erheben kann.

Anscheinend war meine Freundin mit dieser unreifen, infantil-narzisstischen „Psycho-Hygiene“ ein Trendsetter: Heute ist es auf Querdenkerdemos völlig selbstverständlich, sich mit den berühmten Opfern des Nazi-Regime zu vergleichen. Da werden Kinder von ihren Müttern vor das Mikrophon geschickt, damit sie der maskenlosen Menge erzählen, sie fühlten sich wie Anne Frank – weil die Polizei ihren Kindergeburtstag gestoppt hat, da sie zu viele Gäste eingeladen hatten. Oder sie verkünden, das Verteilen von Flugblättern mit den Aufrufen zum Widerstand gegen die Maskenpflicht (und damit zur Unsolidarität und Gefährdung aller Mitbürger), mache sie mit Sophie Scholl vergleichbar.

Anne Frank ist nach Ausschwitz transportiert worden. Wer je das ehemalige Lager besucht hat, traut sich nicht das Leid zu ermessen, was dieser Ort und jeder einzelner Mensch dort erfahren hat. Sophie Scholl wurde mit 21 Jahren geköpft, sie wurde auf ein Schafott geführt, im Wissen um die letzten Sekunden ihres jungen Lebens – das sie für Wahrheit und gegen selbstgerechte Lügen, schwacher, dummer Menschen geopfert hat.

Ich habe meiner Freundin nach ihrer Aussage über das „Mütter-KZ“ damals die Freundschaft gekündigt. Es geschah aus Wortlosigkeit. Ich glaube sie weiß bis heute nicht, warum ich plötzlich keinen Anruf mehr entgegengenommen habe, bei jedem zufälligen Treffen sofort das Weite gesucht habe. Ich kannte sie fast 30 Jahre lang. Ich habe mit ihr sehr viel erlebt, unglaublich lustige und besondere Dinge. Und trotzdem: Ich komme nicht über ihre selbstgerechte Dummheit und Respektlosigkeit hinweg. (Ich hatte den Sorgerechtsstreit vorher begleitet, für sie ausgesagt und mit ihr immer wieder über die vermeintliche „Schuld der Väter“, „Schuld der Gesellschaft“ diskutiert. Es gab bei ihr keine Objektivität, auch nicht nach ihrem Sieg vor Gericht – und der Auflage, selbst eine Therapie machen zu müssen.)

Die Deutschen haben sich, zum Erstaunen der Besatzer, schon kurz nach der Kapitulation selbst als Opfer gesehen: Als Leidtragende einer bösen US-jüdischen Macht, als Opfer der Nazis (die sie selbst gewählt hatten) oder Opfer der Bombennächte. Man schwang sich nahtlos vom Tätervolk zum größten Opfervolk auf. „Opferstolz“ heißt das in der Psychologie: Man will selbst das aller aller größte Leid und Unrecht erfahren haben – und alle anderen sind die bösen Egoisten und Schuldigen. So spielt unser kindlicher, unreifer Narzissmus gerne „über Bande“: Sucht sich noch im Elend seine dumme kleine Selbstaufwertung. Die Querdenkerszene lebt davon, sie funktionalisiert sogar ihre Kinder dafür.

Durch einen Zufall der Geschichte wurde ich in eine Familie hineingeboren, die unter den Nazis viel Leid erfahren hat – noch in der direkten, prägenden Generation vor mir: Meine Eltern. Auch ich habe schon vor Jahren ein Buch darüber geschrieben, um den Alltag mit kriegstraumatisierten Kindern als Eltern, zu verarbeiten („Ich, Rabentochter“, Nymphenburger Verlag). Und auch bei mir ist der „Opferstolz“ heute Teil meiner Identität. Nur hat das echte Leid meiner Familie, meine ganze Kindheit, mein ganzes Leben überschattet, in vielen schlimmen Situationen: Ich war dabei, leider. Mein Stolz ergibt sich daraus, das Beste draus gemacht zu haben – nicht zuletzt in meinem Beruf und dem Bemühen, das eigene erfahrene Leid nicht mit eigener Dummheit und Selbstgerechtigkeit weiter zu vererben.

Ich kann deshalb meiner Freundin nicht verzeihen. Zumal ich weiß, dass eine Verarbeitung ihrer eigenen Geschichte (als eigentlicher Grund für ihr vermeintliches „Anrecht“ auf einen „Nazi-Opfer-Status“), von ihr nie wirklich vollzogen wurde: Sie verletzt andere, so wie viele ehemalige Opfer es später als Täter tun. Sie missbraucht das wirkliche Leid der Millionen KZ-Häftlinge für ihr dummes kleines Alltagsleid, das sie sich dazu noch zum Teil selbst eingebrockt hat. Der falsche Mann war ihre Wahl, kein Regime, hat sie in Viehwagons und Baracken hungernd und gefoltert dazu gezwungen.

Auch Querdenker machen sich, selbst nur als unbedarfte Mitläufer, genauso an dem großen Leid mitschuldig, das immer aus populistischer Selbstgerechtigkeit entsteht: Politische Dummheit und pseudowissenschaftlicher Größenwahn, die Selbsterhebung im Besser-Wissen, macht die Mit-Opfer der Pandemie zu Tätern des Rechtsrücks und Menschenverachtung. Wir haben (als Wähler und Teilnehmer einer Pandemie), die Willensfreiheit, uns mit den eigenen Gefühlen der zeitweisen Entmachtung, unseren Ängsten und Selbstwert-Sehnsüchten auseinander zu setzen. Jeder Maskenträger tut das jeden Tag.