Lackmustest Corona – oder das Ende der Illusion

Corona als Katalysator für das Ende der Aufklärung.

Wenn die Coronakrise etwas deutlich macht, dann ist es die Zweiteilung unserer westlichen, angeblich humanistischen-christlichen Gesellschaften. Das marode Gesundheitssystem in vielen Staaten weist darauf hin, dass unser vielgepriesener medizinischer und technischer Fortschritt, die Errungenschaften der Aufklärung und des wachsenden Wohlstandes, nur für die begabten, gebildeten Leistungsträger gilt. Wie im Zeitraffer wird deutlich, dass nur noch die Erwünschten, Begabten, Talentierten mit ihren kapitalen Fähigkeiten, die Früchte der Aufklärung genießen und in privilegierten Gärten und eigenen Ferienwohnungen auch zukünftigen Pandemien gut überstehen werden. Und diese Zweiteilung in Gewollte und „kapitalistischen Müll“ (wie der afrikanische Philosoph Achille Mbembe sie nennt), wird unsere Zukunft bestimmen.

Unsere christlichen Werte, die Fleiß und Strebsamkeit im Zuge der Reformation und Aufklärung als gottgefällige, gewissenhafte Fortschrittsidee etabliert haben, verteidigen immer noch die Trennung unseres höheren Verstandes von den niederen Trieben, die es zu beherrschen und erforschen gilt. So wurde in den 90er Jahren sogar das „Ende der Geschichte“ ausgerufen (vom amerikanischen Philosophen Francis Fukuyama), im Glauben daran, dass unser Verstand, unser technischer Fortschritt nun bald allen Menschen Wohlstand, Freiheit, Frieden und medizinische Versorgung bringen wird und die westliche Kultur der Aufklärung und des protestantischen Liberalismus gesiegt hat.

Arme, Ungebildete, Übergewichtige haben demnach – in dieser Leistungsdoktrin und diesem eigenverantwortlichen Glücksstreben – mit ihrem Geist/Verstand und für ihr Seelenheil, nicht gottgefällig genug ihre Triebe beherrscht. Ihr Erfolg bzw. Misserfolg im Leben wird ihnen eigenverantwortlich selbst zugeschrieben, denn unser höherer Verstand muss (im Sinne des Menschenbilds der Aufklärung) unseren Körper doch beherrschen, um den Weltgeist und uns als Krönung der Schöpfung zu beweisen! Jeder kann demnach fleißiger werden und sich mit den angeblichen unbegrenzten Möglichkeiten der Bildung besser selbstoptimieren! Menschen aus sogenannten sozialschwachen Milieus sind also an ihrem Zustand selbst Schuld – und haben deshalb weder ordentliche Renten und auch keine Beatmungsmaschinen verdient, die ihre minderwertigen Leben retten.

Nicht wenige Menschen glauben sogar, im Sinne eines solchen metaphysischen, linearen Sozialdarwinismus (nahe an den Verschwörungstheorien), dass die Entwerteten gerade vom Virus aussortiert werden. Dieser krude Biologismus findet sich auch bei Donald Trump und allen anderen populistischen Diktatoren wieder. Die Verteilungskämpfe und Rechtfertigung eigener irgendwie gearteter Privilegien nimmt zu – auf allen Seiten. Unser allzumenschlicher Narzissmus rechtfertigt sich als gebildete Leistungsträger oder als wahre Deutsche, weiße Männer, christliche abendländische, überlegene Kultur gleichermaßen: Hauptsache, man steht über anderen – ist der eigene „Verdienst“ daran auch noch so weit hergeholt. Doch ist das eine typische Reaktion des Menschen im wachsenden Unbehagen und der Lackmustest dafür, dass wir als Lebewesen zunehmend unter Stress stehen, auch wenn viele Statistiken das noch nicht erfassen. Unsere Kränkung, als Spiegel unseres grundsätzlich narzisstischen Lebenstriebs kennt kein höheres Ziel – und kann lediglich in einer Selbstreife ins Gleichgewicht gebracht werden.

So ist das Ende der Aufklärung erreicht – und mit ihm das Menschenmodel vom Vernunftwesen, das seine Triebe beherrscht und den Weltgeist im andauernden Fortschritt voranschreiten lässt. Unsere metaphysische Selbsterhöhung ist hinfällig – und verweist gleichzeitig darauf, dass wir nun mal Lebewesen sind, Narzissten, bis tief hinein in die Wissenschaft und Religion: Immer noch wird die eigene Vormacht und Überlegenheit darin mitgedacht. Sich auszurechnen, wie es weiter geht, in zunehmend zerstörten Lebensregionen, mit einer immensen Überbevölkerung und wachsenden Verteilungskriegen, aufgrund unseres technischen Fortschritts im Kampf um Vormacht und gegen die eigene Entwertung und die Kränkung des Verzichts, ist nicht schwer zu erahnen. Es geht nicht mehr darum Besseres zu erreichen – es gilt nur noch den Schaden zu begrenzen. Es geht nicht mehr um immer mehr, sondern um zwangsläufigen Verzicht. Wir könnten ihn mit Vernunft gestalten, doch wird der unreife Narzissmus wohl auch hier der Gestalter unsres Rückzugs sein.

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