Die Lüge vom bedingungslosen Grundeinkommen

Dies ist ein Textauszug für diesen Artikel.

Im Spiegel-Streitgespräch zwischen dem Philosophen R.D. Precht und dem Investor F. Thelen (36/2020) sind sich beide in nur einer Sache einig: Es braucht ein bedingungsloses Grundeinkommen. Doch aus psychologischer Sicht ist diese Ideologie vom „freien Menschen“ – der sich, von den Qualen der Arbeitswelt entbunden, seiner Selbstverwirklichung widmet – völliger Unsinn.

Wir sind keine Verstandeswesen: Das war der große Irrtum der Aufklärung, die unser Denken und Erkennen, unsere Logik und Ration zur Krönung der Schöpfung erkor – und dem sündigen Körper und den Trieben gegenüberstellte, um diese gottgefällig/gottähnlich zu beherrschen. Doch bis heute begründet die Philosophie unsere Freiheit mit unserem angeblich überlegenen Verstand: Der Weltgeist soll mit Fortschritt – linear – alles Leid beheben. Das Ende der Geschichte, die Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, ist angeblich immer noch möglich. (Und das freut natürlich jeden Investor der Digitalisierung.)

Allein: Der Mensch ist nicht so.

Wir sind Psychosomaten, nur 5% unserer Denkleistung ist reflexiv. Und gerade auch dieses Bewusstsein hat uns grundlegend zu Narzissten gemacht: Mit Vorsatz versuchen wir, besser zu überleben. Doch die meisten Menschen können ihre unreifen narzisstischen Ansprüche nicht mit Intelligenz, guter Bildung und Selbstreife selbstbestimmt umsetzen. Sie brauchen soziale Hilfestellung, Einbindung, Solidarität – mehr noch als jedes Geld. Denn wir sind keine Leistungs-Maschinen, sondern soziale Lebewesen. Es gibt für uns nichts Wichtigeres, als dazuzugehören, teilzuhaben, einen guten Platz zu haben in der Gruppe.

Dagegen gleicht das bedingungslose Grundeinkommen einer Abwrack-Prämie: Zwischen 800 und 1200 Euro monatliche Ausschüttung an jeden Bürger, ohne jede Gegenverpflichtung, tauchen im Moment in den Berechnungen für das bedingungslose Grundeinkommen auf. Erste Feldversuche wurden bereits (z.B. in Finnland) durchgeführt – und gelten jetzt schon als gescheitert. Doch so schnell geben die Vernunftgläubigen, mit ihrem althergebrachten Menschenbild nicht auf…  

Gerade startet ein Projekt in Deutschland, unterstützt von Spenden reicher Idealisten. Das Geld soll die vom Kapitalmarkt nicht mehr gebrauchten Menschen mit einer finanziellen Grundsicherung und ohne weitere Förderung und Forderungen in die „vernünftige Selbständigkeit“ entlassen. Alle Kosten für Sozialämter sollen eingespart und das Geld stattdessen, ohne jede weitere Einbindung und Sorge um die Abgehängten, allen „einfach so“ ausgezahlt werden.

Die enttäuschten, verunsicherten und/oder schlecht ausgebildeten Menschen sollen so auf wundersame Weise zu einem „mächtigen Produktionsfaktor“ (Philippe van Parijs, Philosoph und Ökonom, brand eins, 1/2018) werden. Aufgrund einer nicht näher definierten, phantastischen, psychischen Wandlung, können Menschen demnach angeblich plötzlich sich selbst zu „Marktteilnehmern“ entwickeln und sich selbst Würde verschaffen. Ihre Vernunft soll, durch die Befreiung von der Kontrolle der Sozialämter, plötzlich die Herrschaft über das Leben bekommen.

(Ursprünglich war für alle Bürger diese Grundausschüttung angedacht, um unsere angebliche demokratische Gleichstellung deutlich zu machen. Doch schnell war klar, dass das auch zur Leistungsverweigerung der „Gebrauchten“ führt: Schlecht bezahlte Kindergärtner, Altenpfleger, Köche etc., die kaum mehr verdienen als das bedingungslose Grundeinkommen, haben sich verstärkt beworben, bei dem deutschen Experiment…)

Um es psychologisch auf den Punkt zu bringen: Diese Vorstellung vom bedingungslosen Grundeinkommen gleicht der Idee, das eigene Kind am Flughafen mit etwas Geld abzusetzen, um ihm damit eine tolle Urlaubserfahrung zu ermöglichen.

Wider alle psychosomatischen Fakten zum ‚Gruppenlebewesen Mensch‘ versuchen Ökonomen und/oder Idealisten, mit dieser Grundsicherung ihr Menschenmodell vom homo oeconomicus weiter durchzusetzen: Angeblich können Menschen, die vom jetzigen Arbeitsmarkt nicht mehr gebraucht werden, plötzlich „…mit dem Reichtum an Informationen und der Vielfalt der Meinungen in der digitalen Welt konstruktiv umgehen“ (Interview mit Albert Wegener, brand eins, 03/2016). Sie müssen demnach dafür nur “…lernen, in der digitalen Welt rationale Menschen zu bleiben“, die sich angeblich um ihr Wohl selbst kümmern können, sobald sie nur vom finanziellen Druck befreit sind.

Vom hohen Ross der aufgeklärten Bildungselite, werden dafür weise Ratschläge erteilt: „Alle Bildungseinrichtungen werden gefordert sein, das Lernen zu lernen, Kritik und Kreativität anzuregen und die Interdisziplinarität zwischen Technik- und Computerwissenschaften, mit Blick auf die Kognition, die Sinneswahrnehmung und Geistesgegenwart zu akzentuieren.“ Und: „Kreativität im Nichtwissen … Freiheits- und Gerechtigkeitssinn, Orientierungs- und Irritationssinn, Realitäts- und Möglichkeitssinn, Körper- und Mediensinne…“ (Interview mit Professor Stephan Jansen, als Leiter des „Center for Philanthropy & Civil Society (PhiCS) an der Karlshochschule“, Karlsruhe, brand eins, 8/2016), werden von höchster Professorenstelle, ernsthaft als Problemlösung für die gesellschaftliche Zweiteilung beschworen.

Schon Karl Marx – als großer Vertreter der sozialen, aufgeklärten, fortschrittlichen Gerechtigkeit – glaubte, in einer höheren, freien Gesellschaft, werde es dem einzelnen Menschen ermöglicht „…heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, mittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirte oder Kritiker zu werden“ ( Karl Marx: Das Kapital, 1846). Und in seinem Essay „Lob des Müßiggangs“, glaubte der Philosoph und Mathematiker Bertrand Russel selbst 1935 noch: „Der Weg zu Glück und Wohlfahrt liegt in einer organisierten Arbeitsbeschränkung.“ Sie erlaube dem Menschen angeblich, dass er sich, jenseits seiner Grundversorgung, mit „hehren Dingen“ beschäftigt, wie Malerei, Literatur, Forschung und Kunst. Wie viele Fehl- und Feldversuche brauchen wir noch, um endlich einzusehen: Der Mensch ist nicht von Natur aus gut?! Er ist ein narzisstisches Gruppenlebewesen, dass selten genug Selbstreife, Intelligenz und Selbststärke entwickelt, um seine narzisstischen Ansprüche weitsichtig und psychisch stabil, erwachsen und reif für sich zu sorgen und realistisch zu planen. Wer sich abgehängt fühlt wählt heute (mit und ohne Geld) gerne rechts, wo er seine unreifen narzisstischen Ansprüche in metaphysischen Paradiesvorstellungen vorgelogen bekommt (von Ratio oder Realitätssinn keine Spur).

Auch von Spiel- und Pornosucht, Depressionen und Einsamkeit, Übergewicht und dem Gefühl der Entwertung, das die Identität von so vielen Abgehängten heute bestimmt, ist in all diesen aufgeklärten metaphysischen Bildungseliten-Vorstellungen von der Gesellschaft nie die Rede.

Dabei ist die geltungslogische Alltagsüberprüfung dieser idealistischen Theorien mit simplen Fragen möglich: Was soll das sein, „Kreativität aus Nichtwissen“? Was ist ein „Irritationssinn“, wenn „die Welt“ zunehmend überfordert?

Wie sollen Kinder lernen, einen strukturierten, sinnvollen Tagesablauf zu führen und das Gefühl bekommen, gebraucht zu werden, gewollt zu sein, wenn ihre Eltern das schon nicht erleben bzw. vorleben? Wie sollen sie, die ohnehin mit der Reizüberflutung der Medien, schwindender Zeit und Geduld und immer mehr Lebensstress der Eltern zu kämpfen haben, einen „Mediensinn“ entwickeln?

Wie sollen Entlassene und Mindest-Löhner, mit ihren vielfach frustrierenden Alltagserfahrungen, plötzlich einer solchen Eigenverantwortung, quasi aus dem „vernünftigen Nichts“, gerecht werden? Warum sollte irgendjemand mies bezahlte, frustrierende Dienstleistungsjobs weiter machen, wenn er ohne Bedingungen einfach so dasselbe Geld bekommt? Denn der Neoliberalismus hat die unqualifizierten Jobs längst aufs Existenz-Minimum gedrückt.

Ein Besuch in einer Sozialwohnung oder eine Stunde in einer Grundschulklasse im Brennpunkt irgendeiner Großstadt, würde hier schon viel Pseudomoral und intellektuelle Vernunft-Hybris, durch etwas echte Lebens-Erfahrung korrigieren. Denn die Realität hat nicht viel zu tun, mit diesen Selbstoptimierungs-Idealen.

Es würde aber auch schon ein einfacher Blick auf die bereits vorliegenden Statistiken zu dem Thema ausreichen: 87% der mehr als eine Millionen Langzeitarbeitslosen in Deutschland haben trotz staatlicher Versorgung, auf dem Niveau des bedingungslosen Grundeinkommens, nicht viel übrig, für eine „freie kreative Entfaltung“ ihrer angeblichen Interessen: Depressionen, Angstzustände, Schmerzen (oft ohne körperlichen Befund), Herz-Kreislauf-Probleme, Übergewicht und ein übermäßiger Medienkonsum, bestimmen ihren arbeitsfreien Alltag. Und: Dieser hohe Anteil an psychosomatischen Beschwerden ändert sich nicht, wenn sie dann als Frührentner anerkannt werden und keinem Amt mehr Rechenschaft schuldig sind. (Zahlen der Statistik der Bundesagentur für Arbeit und des Bundesgesundheitsamts, 2017 – das sind die Befunde vor der Coronakrise.)

Die Brüche und Krisen im Leben können von vielen Menschen nicht mehr alleine und auch nicht mit irgendwelchen Selbstoptimierungsstrategien und Erfolgscoachings – von eigener Zielsetzung, über Kontemplation, bis zu Achtsamkeitsübungen – bewältigt werden: Die psychosomatische Selbststruktur vieler Menschen ist, aufgrund ihrer bisherigen sozialen Lebenserfahrungen und zunehmenden Verunsicherung und Überforderung, dafür zu instabil, regressiv, unreif. Sie brauchen dagegen bestätigende, um sie bemühte soziale Einbindung, als (staatlich geförderte) korrigierende Erfahrung. Lebensmut, Wertgefühl und Wohlergehen kann nur durch aktive Teilhabe und das Bemühen der Gesellschaft um die Entwerteten zurückgewonnen werden. Denn gerade die mangelnde Selbstwirksamkeit und Selbstreife, die Menschen in diese anhaltend schlechten Lebenssituationen bringt, widerspricht jeder Eigeninitiative.

Solidarität und Einbindung in die neoliberale, kapitalisierte Menschenbewertung soll aber durch das bedingungslose Grundeinkommen gerade nicht mehr erfolgen: Die Menschen werden mit ihrem Geld sich selbst überlassen – im Ideal einer protestantischen Leistungsethik der Eigenverantwortung und gewissenhaften Selbstoptimierung für den eigenen, paradieshaften Erfolg.

Auf die sozialen Prägungen der Kindheit – die unsere Identität, Intelligenz, Bildungschancen und unseren Charakter ausmachen – wird keine Rücksicht genommen: Jede Seele ist für sich selbst verantwortlich, vom göttlichen Willen/Schicksal verdammt, besser oder schlechter in die Welt zu starten. Und: Das entlastet die Erfolgreichen von ihrer moralischen Verpflichtung – sehr praktisch, für alle Entrepreneure des Fortschritts und der Digitalisierung.

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